Chris Carlsson war schon bei der ersten Critical Mass in San Francisco im Jahr 1992 dabei und hat die Bewegung durch seine Texte und Flugblätter geprägt. Selber wehrt er sich jedoch entschieden gegen die Bezeichnung als «Begründer» der Critical Mass.
Der folgende Text ist Teil des Buches «Shift Happens! – Critical Mass at 20», welches 2012 zum 20-jährigen Jubiläum der Critical Mass erschienen ist und Texte von Autor*innen aus der ganzen Welt enthält. Wir publizieren das erste Kapitel hier auf Deutsch übersetzt.
Grübeleien eines Diplomaten aus Zufall
Von Chris Carlsson
Als wir spät im vergangenen Jahr realisierten, dass das zwanzigjährige Jubiläum von Critical Mass weniger als ein Jahr entfernt war, veröffentlichten wir einen internationalen Aufruf nach wohlüberlegten Analysen. Wir wollten weiter gehen und tiefgründiger werden als im Buch zum zehnten Jahrestag. «Shift happens! – Verlagerung passiert!» ist das Ergebnis, und wir sind äusserst zufrieden mit der Qualität und thematischen Breite der eingegangenen Texte. Mehrere Dutzend Mitwirkende und eine breite Palette an Erfahrungen aus der ganzen Welt von Critical Mass füllen diese Seiten. Die ursprüngliche Idee ist noch zu erkennen, aber auf faszinierende Weise hat sie sich auch gewandelt und verschoben durch Raum und Zeit.
Ich hatte grosses Glück. In den vergangenen zwanzig Jahren bin ich bei über hundert Critical Masses in San Francisco mitgefahren und wurde zu vergleichbaren Anlässen in über einem Dutzend anderen Städten rund um die Erde eingeladen. In den ersten Jahren schrieb ich einige Essays, die ich als «Xerokratie» vor den Ausfahrten in San Francisco an die Mitfahrenden verteilte. Viele dieser Kurztexte haben ein Eigenleben entwickelt und wurden häufig und an verschiedenen Orten übersetzt und nachgedruckt. Ich habe oft und gut wahrnehmbar dazu beigetragen, die Philosophie, Etikette und Kultur von Critical Mass zu gestalten. Vielleicht deshalb wurde mir viel zu sehr das Verdienst des «Begründers» zugeschrieben, der mit allem angefangen hat. Diese Identifikation meiner Person mit der Bewegung wurde noch gefestigt, als ich vor zehn Jahren zur Feier des zehnten Jahrestages eine weltweite Anthologie mit dem Titel «Critical Mass: eine trotzige Feier des Radfahrens» herausgab. Das Buch war ein wichtiger Bezugspunkt für die horizontalistische, anarchische, innovative und sich in vielen Ländern reproduzierende soziale Bewegung namens «Critical Mass».
Es hat mir grosse Freude bereitet und mich stolz gemacht, rund um die Welt zu reisen und als globaler Botschafter für Critical Mass und die radikal verändernde Politik des Radfahrens empfangen zu werden. Aber ich möchte die falsche Geschichte, dass mein persönliches Verdienst gross war, eindeutig korrigieren. Critical Mass ist ein fantastisches Beispiel einer kollektiven Bewegung, die über den typischen historischen Brauch hinaus geht, «bedeutende Männer» oder «brillante Einzelne» als Ursprung von sozialen Bewegungen zu bezeichnen. Critical Mass entstand vor zwanzig Jahren mit einigen Dutzend Menschen in San Francisco und hat sich dank dem unermüdlichen Einsatz von vielen Tausenden in über 350 Städten rund um die Welt reproduziert. Häufig sind es nur wenige Leute, die gemeinsam Rad fahren und damit andere zum Mitfahren animieren. Das Ganze gewinnt stetig an Schwung, bis es sich über die politische und soziale Landschaft einer Stadt ausbreitet. Darüber hinaus ist die Idee des gemeinsamen Radfahrens so offen, dass die Leute sie über die Jahrzehnte auf vielerlei Weise angepasst haben, um Aufmerksamkeit für ein breites Spektrum an politischen Themen und Kampagnen zu generieren: vom gewöhnlichen Freizeit-Radeln bis hin zu Critical Mass-ähnlichen Ausfahrten.
Und wie wir von einigen der Aufsätze in dieser neuen Sammlung erfahren, wurden Massenausfahrten mit dem Fahrrad nicht 1992 erfunden. Sie fanden schon Jahre bevor wir in San Francisco starteten, in verschiedenen Teilen der Erde statt, namentlich in Bilbao, Spanien, und Helsinki, Finnland, von wo unsere Autoren über frühere Anlässe berichten. Chinesische Städte waren voll von Fahrrädern, weil diese jahrzehntelang das hauptsächliche Transportmittel waren; der New Yorker George Bliss beobachtete 1991 von seinem Hotelzimmer in Shanghai aus, wie sich der Radverkehr am Rand des fliessenden Verkehrs sammelte, bis er eine kritische Masse erreichte und einen eigenen Verkehrsstrom zu bilden begann – daher unser Name. Unweit von der Gegend im nördlichen Oakland, in der ich aufwuchs, veranstalteten früh Umweltaktivisten von 1969 bis 1971 auf der Telegraph Avenue in Berkeley jährlich eine Fahrrad-Massenausfahrt, die sich «Tag der abgasfreien Fortbewegung» nannte. Tief im sozialen Erbe von San Francisco selbst verstopften bereits hundert Jahre zuvor, 1896, fünf- bis sechstausend Radfahrer auf einer gemeinsamen Fahrt die schlammigen, zerfahrenen Strassen, um gute Strassen und Asphaltbelag zu verlangen (damit bereiteten sie unwissentlich die Bühne für das nächste Fahrzeug, das für Geschwindigkeit, Bequemlichkeit und persönliche Freiheit stand: das Automobil). Meine Mutter wurde in Kopenhagen geboren und grossgezogen. Ich besuchte die Stadt als kleiner Junge und dann wieder 1977 als junger Erwachsener – die vernünftige Organisation der öffentlichen Strassen mit ihrem dem Radverkehr zugeteilten Raum war den Schnellstrassen und starren, autofreundlichen Strassennetzen in Gitterform im Kalifornien meiner Kindheit ganz eindeutig vorzuziehen.
Critical Mass war ein neuer Anfang, aber sie gedieh ganz natürlich auf fruchtbarem Boden, wo die verschiedensten Samen keimten. Als sie dann vor zwanzig Jahren erschien, war Critical Mass ein Mischprodukt aus spätkapitalistischem Städtedesign, lange unterdrückten anarchistischen politischen Ideen, der wachsenden Ablehnung, sich aufgezwungenen eingebetteten Technologien unterzuordnen, und dem Drang, die Städte als öffentlichen Raum zurückzuerobern. Die Leichtigkeit, mit welcher sie sich über die ganze Welt vervielfältigte, ist ein deutlicher Ausdruck (und eine kreative Entgegnung) der schleichenden Monokultur, welche überall die Städte prägte.
Als selbsternannter und zufälliger Diplomat von Critical Mass hatte ich einen besonderen Blick auf dieses Phänomen, das auftauchte, sich entwickelte und manchmal auch wieder verschwand. Im Februar 2012, als ich in Porto Alegre und Sao Paulo in Brasilien war, realisierte ich, dass ich eine Art Lebenszyklus von Critical Mass in verschiedenen Städten miterlebt hatte.
- Im Sommer 2003 besuchte ich New York für den bikesummer und fuhr im Abschlussanlass mit, der Critical Mass des Monats Juli. Wir hatten eine grossartige Fahrt, zum ersten Mal mit über tausend Teilnehmer*innen in New York, schlängelten uns durch Manhattan, bevor wir über die Queensborough Bridge zu einem Skulpturenpark am East River fuhren. Das Wetter war perfekt, Freude und Euphorie überwältigend. Nur einige Jahre zuvor hatte ich während der WTO-Proteste von 1999 im Kongresszentrum von Seattle mit Bill DiPaola von TimesUp! über den augenscheinlichen Niedergang der New Yorker Critical Mass gesprochen. Teilweise angeregt durch unsere Gespräche und sicherlich durch die eindrücklichen Proteste, kehrte Bill mit frischem Schwung und zusammen mit Dutzenden anderer New Yorker zurück, und Critical Mass begann zu wachsen. 2003 hob sie ab, und die Ausfahrt im Juli war ein prägender Höhepunkt, der den Sinn für hoffnungsvollen Optimismus und Wachstum verstärkte. Ein Jahr später übernahmen die Republikaner die Stadt, und das New York Police Departement startete einen wahnsinnigen, gewalttätigen und illegalen Rachefeldzug gegen Critical Mass und zerstörte sie mehr oder weniger (siehe den Text von Matthew Roth für eine detaillierte Beschreibung).
- 2002 besuchte ich Mailand mit einigen Exemplaren des ersten Critical Mass-Buches, das soeben erschienen war. Mona Caron und ich fuhren im Juni die Mailänder Critical Mass und waren überwältigt davon, wie schön es war, in eine italienische Kultur einzutauchen, die ihrerseits die Übernahme der Strassen durch das Fahrrad von Herzen empfangen hatte. Natürlich verstanden die Italiener eine Menge vom öffentlichem Raum, von Verständigung und ihrer politischen Bedeutung. Obwohl sich die Linke seit Längerem im Abstieg befand, fand eine ganze Generation von umsichtigen, radikalen Menschen durch Critical Mass neue Wege, sich auf einander und auf ihre Stadt einzulassen. Es war wie verzaubert. Mindestens ein paar Tausend Fahrer*innen waren in jener Nacht auf den Strassen und fuhren eine lange Schlaufe durch die ausufernde Metropole. Im Jahr danach hörten wir von einer Critical Mass, die von Brunnen zu Brunnen führte, damit baden konnte, wer wollte. 2009 kehrte ich nach Mailand zurück für eine Lesung von Nowtopia in einem kleinen Buchladen. Am Ende der Lesung wurde ich zur Türe gerufen, wo mich jemand aufforderte, ins Freie zu kommen, um die Mailänder Critical Mass zu sehen, welche vorbeischaute. Und tatsächlich, da waren 150 schräge Typen auf Fahrrädern, die klingelten und mich stürmisch begrüssten. Sie setzten mich auf die Vorderbank eines Dreirades und fuhren mit mir einmal um den Block. Sie machten mich zu ihrem Anführer, obwohl ich bloss grinste und winkte, um meine Verlegenheit zu verbergen. Freunde erzählten mir, dass Mailands Critical Mass stark am Schrumpfen war, und die meisten Leute waren wesentlich weniger begeistert als noch ein halbes Jahrzehnt zuvor.
- In demselben Jahrzehnt war die Critical Mass von Rom am Abheben, angeregt durch die grosse Fahrt in Mailand in den frühen 2000ern. 2008 fuhr ich an ihrem dreitägigen ciemmona (grosse Critical Mass) genannten Spektakel mit. Wieder kam ich in den Genuss der wilden Euphorie einer vielfältigen Gemeinschaft hunderter schöner Leute, welche zusammen die Strassen mit ihren Rädern in Beschlag nahmen. Roms Szene explodierte, und sie blüht bis heute auf (mehrere Artikel in diesem Buch beschreiben das im Detail und wie die Critical Mass andere Aktivitäten neben der Ausfahrt selber genährt und beeinflusst hat).
- Thiago Benicchio, ein guter Freund von mir in São Paulo (von ihm stammt ein grossartiger Artikel in diesem Buch) beklagte sich bei mir, dass die Critical Mass dort in den Jahren zuvor ihren Zauber verloren hatte. Sie hatte 2002 ganz klein begonnen und erst ungefähr 2006 abgehoben. Dann durchlebte sie die typische Euphorie und die rasche Bildung neuer Gemeinschaften und Gruppen von Freunden, die vielerorts Critical Mass charakterisieren. Aber 2011 blieben viele der ursprünglichen Teilnehmer weg, und etwas war verloren gegangen. (Anscheinend war anfangs 2012, nach einigen tragischen Verkehrsunfällen von Radfahrern, tatsächlich eine neue Welle von Aktivismus entstanden.) Inzwischen war die Critical Mass (in Brasilien bicicletada genannt) im südbrasilianischen Porto Alegre, die 2009 mit wenigen Radfahrern entstanden war, in stetigem Wachstum begriffen, bis im Februar 2011 ein Banker mit seinem Auto durch die 200 Teilnehmer der bicicletada fuhr und Dutzende verletzte, aber wundersamerweise niemanden tötete. Danach wuchs der Anlass explosionsartig, und als ich im Februar 2012 zum World Bike Forum hinfuhr, radelte ich mit fast 2000 Velofahrern in der grössten bicicletada, die es dort je gab. Sie sind dort immer noch in der frühen euphorischen Phase, wo viele Leute verschiedenster Herkunft und aus unterschiedlichsten Verhältnissen zusammenkommen. Sie finden einander, bilden neue Gemeinschaften und spüren das Potenzial, ihre Stadt durch kollektives Handeln neu zu gestalten.
In San Francisco hatten wir zwischen 1992 und 1997 auch einen bemerkenswerten Lauf. Nach einem Polizeieinsatz, den der damalige Bürgermeister Willie Brown im Juli 1997 losgetreten hatte, schafften wir es, den Anlass am Leben zu erhalten und sogar den Spiess gegen die Behörden umzudrehen. Dazu veranstalteten wir im folgenden Monat eine «ride to rule»-Critical Mass (alle befolgten ALLE Verkehrsregeln, radelten in Einerkolonne und hielten an jeder Ampel und jedem Stoppschild usw.), welche den Verkehr in der Innenstadt wenig überraschend unendlich viel SCHLIMMER machte, als wenn wir sie im üblichen, auf Sicherheit bedachten Stil in einem Pulk gefahren hätten. Wir können den Wechsel in der Critical Mass-Kultur auf diesen Zeitpunkt datieren, denn die «Xerokratie» begann danach auszulaufen, keiner übernahm die Verantwortung, die Critical Mass oder ihre Kultur am Leben zu erhalten, und sie lief für zwölf Jahre weiter «wie ein verlassener Garten», wie es Hugh D’Andrade in seinem Artikel nennt.
Vielleicht gibt es eine erkennbare Lebensdauer für Critical Mass, die zwar unterschiedlich lang ist, aber immer nach einem ähnlichen Muster verläuft. Mindestens scheint es einen gemeinsamen Pfad zu geben, auf dem eine Critical Mass klein und langsam beginnt, dann über Monate und Jahre Anhänger gewinnt und schliesslich mit Tausenden von Fahrern, schlechter Presse und Repressalien von den Behörden explodiert. Es ist schwierig, die Euphorie einer gemeinsamen, freudvollen Rückeroberung des städtischen Raums über längere Zeit zu erhalten. Die Neuartigkeit lässt nach, die Initianten des Anfangs, welche die neue Politik und die neuen Möglichkeiten des Ausdrucks aufnahmen, beginnen sich zu langweilen oder ziehen weiter, und das Erlebnis verändert sich. Vielleicht geht das Ganze weiter, wie es das in San Francisco für inzwischen zwanzig Jahre tut, aber es ist danach nicht mehr dasselbe wie in den besonderen Anfangsjahren. Menschen, die sie erst später entdecken, können für eine Weile von derselben Euphorie angesteckt werden. Der Grundton der Ausfahrt, wenn es einen gibt, wird aber von den Leuten bestimmt, die ihr die eine oder andere Richtung geben und sie mehr oder weniger streitlustig machen. Das Gefühl von etwas Neuartigem, Undefinierbarem mit offenem Ausgang geht langsam verloren. Stattdessen ist da ein halbwegs institutionalisierter monatlicher Event, der als Teil des städtischen Lebens akzeptiert wird. Mit Begeisterung oder mit Ablehnung, aber mit viel weniger Neugier als in den frühen Jahren, als er weniger einfach einzuordnen war.
Das macht es nicht zu etwas Schlechtem oder mindert die Kraft und Bedeutung von Critical Mass als ein gestaltender Event im Leben einer Stadt. Es gilt einfach festzuhalten, dass etwas, wofür wir so viel Zeit und Gedanken aufgewendet haben, sich über die Zeit wandelt. Das ist in Ordnung so. Alles, was wir tun, besonders, wenn es eine soziale, gemeinsame Aktivität ist, entwickelt sich mit der Zeit. Indem wir feststellen, wie sich unsere Erfahrungen wandeln, stellen wir auch fest, wie unsere Handlungen die Zusammenhänge in der Welt, in der wir leben, verändert haben.
Entscheidungen, Gewohnheiten und politische Taktiken verlagern
Critical Mass verwirrt die Menschen, weil es sich nicht um eine Organisation handelt und sie keinen «Zweck» in der üblichen Art und Weise politischen Denkens hat. Ja, wir sitzen auf Fahrrädern. Eine frühe und anhaltende Motivation für die meisten Fahrer ist, uns sichtbar und wahrgenommen zu machen als Benutzer der städtischen Strassen. Unser unbewilligter «organisierter Zufall» ist zu einem Brauch geworden, von San Francisco bis London. Das bedeutet, dass wir in die typische und absehbare Dynamik des Stadtlebens integriert sind – mindestens an gewissen Orten. Andere Städte wie New York City und Portland haben ihre Polizei benutzt, um die Critical Mass-Ausfahrten zu behindern und letztendlich auszumerzen. (Beide Städte, und ich halte das nicht für einen Zufall, haben ihr Strassennetz umfangreich und tief greifend umgestaltet, um den enormen Zuwachs an Radverkehr zu bewältigen, der auf das rasche Wachstum und die resolute Repression ihrer Critical Mass-Ausfahrten gefolgt war.)
Im Jahr 2012 ist die Critical Mass von San Francisco ein gut etablierter monatlicher Anlass. Niemand macht Werbung dafür, niemand organisiert sie, es gibt kaum mehr Flyers oder «Xerokratie» heute. Viele Fahrer*innen haben keine Vorstellung davon, wie es in den prägenden Anfangsjahren war. Wenn ab und zu einer von uns einen Vorschlag für eine Route auf einem Flyer mitbringt, werden wir auf der Plaza ausgelacht, wir verstiessen gegen den Spirit der Fahrt, und werden beschuldigt, nicht zu verstehen, dass Critical Mass nie eine Route, ein Ziel oder einen Anführer hat. Die gemeinschaftliche, kreative Kultur, die das Erlebnis der frühen Jahre prägte und sich in unterschiedlicher Form in die ganze Welt übertrug, verbreitete sich nur teilweise unter den Fahrern in San Francisco. Manchmal wirkt es, als sei San Francisco das Loch in einem Donut in einer laufenden globalen Bewegung, die heute andernorts weitaus visionärer und abenteuerlicher ist als am Ort ihrer Entstehung.
In den 20 Jahren von Critical Mass ist der Velo-Alltagsverkehr enorm gewachsen, sicherlich auf das Zehn-, vielleicht auf das Zwanzigfache. Dass die San Francisco Bicycle Coalition über viele Jahre sorgfältig für Radstreifen, Mehrzweckstreifen und signalisierte Velorouten lobbyiert hat, hat in den letzten Jahren endlich Früchte getragen. Der erstaunliche Anstieg an täglichen Velofahrten in San Francisco ist hauptsächlich ihr Verdienst, doch schauen wir den Tatsachen ins Auge: hätten über die letzten 20 Jahre nicht Massen von selbst-organisierten Velofahrer*innen für ein paar Stunden am Ende jeden Monats die Strassen der Stadt übernommen, wäre die Velokultur hier nicht das geworden, was sie heute ist. (Die Bicycle Coalition selbst wäre auch nicht, was sie heute ist – sie war fast inaktiv, als Critical Mass begann und hat heute über 12'000 zahlende Mitglieder.) Und diese breite Velokultur – von Do-it-yourself-Werkstätten, Freizeit-Ausfahrten und historischen und kulturellen Velotouren über Velo-Rodeo, Choppers, Tall Bikes und Rennbahnen bis hin zu spontanen Mondschein-Fahrten, Bike Partys und so weiter – ist die eigentliche Basis für die Umgestaltung der Stadt, die immer noch an ihrem Anfang steht.
Ganz grundsätzlich ist Critical Mass die Rückeroberung von öffentlichem Raum von einer Kultur, die auf Privatisierung und die Reduktion des menschlichen Lebens auf geschäftlichen Austausch ausgerichtet ist. Critical Mass existierte immer ausserhalb dieser Logik, als eine Zone des freien Zusammenschlusses, in der Kaufen und Verkaufen nicht die bestimmenden Aktivitäten sind. Wir bevölkern die Strassen der Stadt auf einer neuen Grundlage und erfinden sie zumindest zeitweise neu. Wir rollen dahin, pausenlos, und damit wird der öffentliche Raum grundsätzlich mobil und passt sich der Geographie und den Gezeiten der Teilnehmer an. Wir reichen keine Petitionen ein, verlangen keine Reformen, stellen keine Forderungen, wir schaffen und bewohnen einfach eine Welt, von der wir den Rest des Monats nur träumen können.
In anderen Teilen der Welt, insbesondere in Italien, Ungarn, Mexico und Spanien, alle gut vertreten in diesem Buch, war Critical Mass eine wichtige Brutstätte neuer politischer Ideen. Neue Initiativen tauchten auf, welche ein breites Spektrum an Fragestellungen des städtischen Lebens aufgriffen, besonders solche des natürlichen und ökologischen Systems, der Wassernutzung, des Klimawandels, urbaner Landwirtschaft und viele mehr. Critical Mass ist ein Phänomen, das weit über blosses Radfahren hinausgeht. Reboredo und Vázquez aus A Coruña in Spanien, die auch Beiträge in diesem Buch geschrieben haben, nennen Critical Mass einen «globalen Prototypen» und verknüpfen die Form der Ausfahrt mit dem weltweiten Aufschwung politischer Bewegungen für Gleichberechtigung. Autoren aus Budapest und Rom zeigen auf, wie Verkehr, Planung und Politik in den Städten durch ganz gezielte und kreative Taktik von Velofahrenden mit ihren Massenausfahrten tiefgreifend verändert wurden.
Den ganzen Einfluss eines derart formlosen sozialen Phänomens wie Critical Mass zu messen, ist vermutlich nicht möglich, was viel damit zu tun hat, dass wegen der nicht vorhandenen Organisation niemals Ziele erklärt worden sind. Aber die Erfahrung der selbst-organisierten Massenausfahrten von Zehntausenden mit dem Velo hat sich nicht in nichts aufgelöst. Die Brasilianerin Tatiana Achcar beschreibt, wie ihre Verbindung zum globalen Critical Mass-Erlebnis ihr Leben veränderte und sie zu einer autonomina machten (ein portugiesisches Neuwort für eine «selbstbestimmte Frau»). In Porto Alegre fragte ich eine Frau, die neben mir herfuhr, wie lange sie schon bei Critical Mass teilnehme. Sie antwortete, sie habe in dem Monat begonnen, nachdem der Banker im Februar 2011 in die Menge gefahren war (siehe Marcelo Kailis ergreifenden Artikel für die ganze Geschichte). Sie fuhr danach immer weiter mit, denn, wie sie mir sagte: «Seit ich Velo fahre, bin ich einfach die ganze Zeit glücklich!»
Inzwischen ist die Logik von Critical Mass tief im Innern von Lokalpolitik und Aktivismus in der Bay Area von San Francisco und vielen anderen Orten auf der ganzen Welt angekommen. Ellie Blue zeigt mit ihrem Artikel in diesem Band, dass viele Critical Mass-Veteranen das Herzstück der jüngsten, USA-weiten occupy-Bewegung bilden. Ihr Aufsatz zeigt ausserdem, wie bike swarming sich als Taktik zur Unterstützung und Ergänzung der occupy-Bewegung an der Westküste im Herbst 2011 herausbildete. Schauen wir weiter weg, so hängen die indignados (die Empörten) und die besetzten Sozialzentren in Spanien und Italien stark mit den Critical Mass-Velofahrenden zusammen und befruchten sich gegenseitig auf immer neue und aufregende Weise. Artikel über die PEDAL-Fahrt nach Palästina oder die anhaltenden Ecotopia-Fahrten durch Europa zeigen, wie Langdistanz-Fahrer*innen sich unterwegs mit Critical Mass-Gemeinschaften verbinden und Veranstaltungen im Stil von Critical Mass nutzen, um selber neue Teilnehmer zu gewinnen und mehr Aufmerksamkeit für ihre eigenen Anliegen zu schaffen. In Rom verwandelte sich der gewöhnliche Freizeit-Veloverkehr zu einer selbst-organisierten Veranstaltung in der Art von Critical Mass, wie Marco Pierfranceschi in seinem Artikel beschreibt.
Freude in die Politik bringen
Als Critical Mass im Jahr 1992 startete, war das eineinhalb Jahre, nachdem George Bush Senior eine «neue Weltordnung» verkündet hatte (und seinen Freund Saddam Hussein dazu verlockt hatte, in Kuwait einzumarschieren, damit er diese neue Weltordnung militärisch belegen konnte). Es waren nur ein paar Jahre seit dem Fall des Eisernen Vorhangs und nur ein Jahr seit der formellen Auflösung der Sowjetunion. In den späten 1970er und frühen 1980er Jahren hatten die Friedensbewegung und die Anti-Nuklearbewegung lange und hart daran gearbeitet, neue Wege zu erfinden, um Politik zu machen. Diese sollten auf den Strukturen von Gesinnungsgruppen beruhen, welche im 19. Jahrhundert oder noch früher von anarchistischen-Gruppen begründet worden waren. Die politischen Energien, die gegen den Kalten Krieg gerichtet waren, zielten auch darauf ab, Reagans illegale Kriege in Mittelamerika in den 1980ern zu stoppen. Die Alte und die Neue Linke konzentrierten sich auf ihren Kampf gegen den US-Imperialismus und ihre Unterstützung von Freiheitsbewegungen in der Dritten Welt. Sie waren durch diese Aktivitäten vollständig gebunden, häufig gemeinsam mit Friedensaktivisten von religiösen Orden und jungen Anarchisten, die sich an der Direkten Aktion orientierten. Nachdem Gorbatschow in der Sowjetunion an die Macht gekommen war und Glasnost und Perestroika begonnen hatte, stolperte Reagans Regime über seine Korruption und illegalen Waffengeschäfte; die politisch linken Bewegungen der frühen Achtziger verloren ebenfalls an Energie. Die Linke war schon vor dem Niedergang der Sowjetunion in Schwierigkeiten. Als sie kollabierte, fanden sich grosse Teile der Linken führungslos; Parteien und Organisationen zerfielen in der Folge von weltweiten Ereignissen. Danach waren nur die links-freiheitlichen und anarchistischen Bewegungen noch frei von Demoralisierung und Niederlage, welche vom Triumph des Kapitalismus in den USA und der ganzen Welt ausgingen.
Critical Mass half in jener Zeit, Politik neu zu erfinden. Indem sie Spass und Freude am Radfahren zusammenbrachte, brach sie nicht nur mit dem dumpfen und aufopfernden Linksradikalismus, der das 20. Jahrhundert dominiert hatte. Sie brach auch mit dem Fokus auf die Probleme anderer Leute, um die Politik des Alltags wiederzubeleben, und verschob ihn auf die eigenen Probleme. Die «Arbeiterklasse», definiert als Arbeiter in der Industrie oder sogar im Dienstleistungssektor, wurde nicht mehr generell als solche begrüsst. Diesen Stolperstein umging Critical Mass, indem jedermann willkommen geheissen wurde, nicht aufgrund seines beruflichen Hintergrundes, sondern aufgrund seiner Mobilitätswahl. Damit aktivierte sie Leute, deren politische Vertretung durch die Paradigmen der Linken verloren gegangen war, weil sie «privilegiert» oder Teil der «Mitteklasse» waren.
Tatsächlich gehörten viele Menschen, die sich Critical Mass in den Städten überall anschlossen, nicht zu den Alltags-Velofahrern, die üblicherweise aus materiellen Gründen gar keine andere Wahl hatten. (Adriana Camarenas Artikel wirft einen scharfen Blick auf diese oft übersehene Klassendynamik, die bei Critical Mass-Fahrten in vielen Städten auftritt.) Die meisten dieser Velonutzer in San Francisco, beispielsweise, sind zugewanderte Arbeiter, chinesisch- oder spanischsprachig. Natürlich gibt es Ausnahmen, wenn sie sich zum Beispiel auf dem Weg nach Hause oder zur Arbeit plötzlich inmitten einer Critical Mass-Veranstaltung wiederfinden, die rundherum die Strassen füllt. Aber die typische kulturelle Ausrichtung der Menschen, die bei Critical Mass mitfahren (und die manchmal fast bandenähnliche Natur von deren sozialen Verbindungen), zieht zusammen mit dem Mangel an Organisation und an Bemühungen, sich zu öffnen, immer wieder dieselbe Art Leute an. Dadurch entsteht kein Raum für andere, die noch keiner ähnlichen sozialen Schicht angehören.
Das letzte Überbleibsel öffentlichen Gemeinguts sind unsere Strassen, auch wenn moderne Städtebewohner sie im Allgemeinen nicht recht als solches nutzen. Strassen und Autobahnen dienen auch als Pulsadern einer globalisierten kapitalistischen Wirtschaft, welche danach strebt, sie möglichst offen und schnell fliessend zu halten. Es wird oft übersehen, dass die monatliche Verstopfung von Durchgangsstrassen durch Radfahrer zu den Taktiken von so verschiedenen Gruppen wie den indigenen Bewohnern der bolivianischen Stadt El Alto oder der Armen in Argentinien gehört, wo Strassenblockaden in den vergangenen zehn Jahren eine wirkungsvolle Methode des politischen Handelns geworden sind. Wenn Arbeiter, Tech-Profis, Servierinnen, Velokuriere, NGO-Bürokräfte und andere aus unsicheren Verhältnissen Stammende zusammen Velo fahren, verbinden sie sich mit einem viel breiteren und tieferen politischen Aufstand des frühen 21. Jahrhunderts, in dem die logistischen «Blutbahnen» des kapitalistischen Handels der empfindlichste Angriffspunkt für oppositionelle Bewegungen sind. Ausserdem eröffnet es vielleicht Chancen für neuartige Formen klassenübergreifender Solidarität, wenn relativ wohlhabende Arbeitskräfte sich für das traditionellerweise mit Armut verknüpfte Velo als Transportmittel entscheiden.
Während die Linke die Fabriken als Brutstätte sozialen Widerstands begriff (und sie sind immer noch enorm wichtig für die Vorstellung des täglichen Lebens, sei es des kapitalistischen Status Quo oder einer möglichen selbstbestimmten utopischen Zukunft), entwickeln sich die öffentlichen Strassen wegen der Entkoppelung von Arbeit und Karriere im täglichen Leben zum vereinenden Gebiet. Dort treffen wir uns alle, wo wir alle täglich hinmüssen und wo wir schliesslich auch durch Massenbewegungen das System zum Anhalten bringen können. Critical Mass-Fahrer, selbst jene, die nur ein- oder zweimal dabei waren, trugen dieses Wissen schon immer im Repertoire ihrer Handlungsmöglichkeiten. Ihre soziale und politische Vorstellungskraft wurde durch ihre Teilnahme an der Erfahrung von Critical Mass nachhaltig verändert, ebenso ihr Sinn für politische und historische Wirkung.
Der Dynamismus und die innovativen politischen Initiativen sind in dieser bemerkenswerten Sammlung von Texten reich belegt. Sie zeigen, dass der Geist von Critical Mass äusserst lebendig ist. Es begeistert immer noch Menschen in zahlreichen Städten verschiedener Länder, auf Fahrrädern zusammenzukommen, um dem (unsinnigen) Lauf des Fortschritts entgegenzutreten. Träume von einem menschenfreundlichen Leben in den Städten, in welchem das Auto als schlechte Transport-Option eine untergeordnete Rolle spielt, werden gestärkt und erneuert durch Critical Mass, Masa Critica, Critichella, KritikONA, El Paseo Nocturno, Cyklojizda, Bicicletada, Ciemmona, Velorutión, Criticona, Bicriticona und all den weltweiten Ausdrucksformen Rad fahrender Bürger, welche die Dinge in die eigenen Hände nehmen. Unser Planet ist mit nie dagewesenen Krisen konfrontiert– wirtschaftlicher, ökologischer, sozialer und technologischer Natur. Das Experimentierfeld, welches durch Critical Mass eröffnet wurde, ist dabei ein zentrales Labor für die Neuerfindung unseres Zusammenlebens auf der Erde.
Das Buch «Shift Happens! – Critical Mass at 20» ist für viele von uns eine Quelle der Inspiration. Du kannst das obige erste Kapitel auf Deutsch lesen, weil sich Menschen aus der deutschsprachigen CM-Community zusammengetan haben, um das Buch zu übersetzen. Falls du bei der Übersetzung weiterer Kapitel helfen möchtest, dann melde dich in diesem Telegram-Chat.
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